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Max Bill kontra Jan Tschichold.

Martin Z. Schröder

Sobald es um Ästhetik geht, also um nicht exakt abwägbare Dinge, gibt es unterschiedliche Haltungen. Auch in der Typografie äußerten sich Schriftgestalter immer wieder unterschiedlich zur Eignung verschiedener Schriften, über den optimalen Satzspiegel, die Verwendung schmückender Elemente etc. Hans Rudolf Bosshard gibt dazu einige historische Beispiele von Bodoni und Bertuch zu Morris und Morison, um auf den sogenannten "Typografiestreit der Moderne" zwischen Jan Tschichold und Max Bill zu kommen, der 1946 stattfand und einige Wogen schlug. Auslöser war ein Vortrag Tschicholds mit dem Titel "Konstanten der Typografie", bei dem er seine früheren, maßgeblichen Regeln zur neuen Typografie aufgrund seiner negativen Erfahrungen mit dem NS-Regime stark relativierte. Max Bill war enttäuscht über den Sinneswandel des einstigen Vorreiters der neuen Typografie und sah in der Forderung zur Wiederaufnahme traditioneller Gestaltungsformen einen Angriff auf die Moderne. Beide machten einander in der Folge den Vorwurf, gestalterisch der nationalsozialistischen Ästhetik nahezustehen. Der heftige Schlagabtausch der prominenten Männer erfolgte in den Schweizer Typographischen Mitteilungen. Er wird in der vorliegenden Aufarbeitung von Originalquellen erstmals detailliert vorgestellt.

Rezension

Gibt es eine totalitäre Typografie?

von Martin Z. Schröder

Als den „Typografiestreit der Moderne“ bezeichnet man eine Auseinandersetzung zwischen Max Bill und Jan Tschichold, 1946 im Abstand von zwei Monaten als Rede und Gegenrede in der Zeitschrift „Schweizer Graphische Mitteilungen“ erschienen. Der Schweizer Typograf Hans Rudolf Bosshard hat diesen Streit nun in Buchform dargestellt, gibt seine eigene Parteinahme allerdings schon durch die Gestalt seines Buches zu erkennen, das bis an die schmalen Ränder mit einer gelegentlich mangelhaft gesetzten halbfetten Serifenlosen bedruckt ist und dadurch so stark an die Neue Typografie der 1920er Jahre erinnert, daß es nicht anders als altmodisch wirkt: So lärmend stellten sich manche jungen Leute den Fortschritt vor hundert Jahren tatsächlich vor, also voll und fett, mit gestürzten Zeilen und roter Farbe.

Kern des Angriffes auf Tschichold war dessen Rückbesinnung auf die Tugenden der Typografie vor dem Verfall des Klassizismus. Tschichold hatte 1945 in Zürich in einem Vortrag erklärt, die Neue Typografie, die er 1928 mit seinem ebenso genannten Buch manifestiert hatte, eigne sich „nur für Werbe- und andere kleine Drucksachen. Für das Buch, besonders das literarische, ist sie im allgemeinen völlig ungeeignet.“ Max Bill stürmte mit kämpferischen Vokabeln - „reaktionäre strömung“, „zurück-zum-alten-satzbild-seuche“ - auf Tschichold los. Er gestand der Typografie nur noch Zweckerfüllung zu, nach seinen Vorstellungen würde die Stufe der Kunst in der Reinheit des Funktionalismus erreicht, „ohne dekorative zutat und ohne verquälung“, wozu für ihn auch die Großbuchstaben im Fließtext gehörten.

Wie falsch die Vorstellung ist, das Funktionale könne für sich stehen und die Form habe keine Aufgabe, sieht man an den schönen Arbeiten auch Max Bills selbst, denn die „Organisation“ der Flächen, die Rhythmen, die Harmonie, die er beschwört, sind nichts anderes als ornamental. Nur leere oder gestopfte Seiten ergeben keine ornamentale Wirkung mehr. In der Architektur sind die Wüsten des Funktionalismus aus Beton, Stahl und Glas viel radikaler erschaffen worden als in der Typografie, und sie sehen rund um den Erball gleich trostlos und verloren aus, abgesehen von den Villen für reiche Leute, in denen die Bauhaus-Architektur durchaus schön und wohnlich sein konnte. Wo Handwerk auf den Urzweck reduziert wird, bleibt das Ergebnis im besten Falle reizlos, meist ist es auch noch häßlich.

Der junge Jan Tschichold hatte 1928, angeregt durch El Lissitzky und Moholy-Nagy, jene Häßlichkeit der Typografie angegriffen, die dem Klassizismus gefolgt war, den schlechten Geschmack der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die alten Regeln des Handwerks zerfielen und das Dekor von schnell zu Geld und Macht gelangten ahnungslosen Auftraggebern bestimmt wurde. Dieses Aufräumen mit dem Übermaß an willkürlicher Verzierung erkannte Tschichold später als richtig, aber in den Schlußfolgerungen der Normierung und Reduktion der Mittel als zu radikal. Schließlich hatte es vor dem Neobarock, der Romantik, dem Historismus und Eklektizismus, dem Jugendstil beispielsweise die Bücher von Baskerville und Bodoni gegeben, die Zweck und Form in Vollendung und ohne Wüsten zu schaffen vereint hatten, und davor die Entwurfskunst der Renaissance. Hans Rudolf Bosshard weist in seinem Buch auf diese Reinigungen durch Didot in Frankreich und Bodoni in Italien hin, sieht sie jedoch als eine Vorstufe zur Neuen Typografie, die nun aber auch noch die Mittelachse aus den Druckwerken verbannen wollte und anfangs alle älteren Schriften rundweg verwarf.

Gegen seine radikalen Ansichten als junger Typograf wandte sich Tschichold etwa zehn Jahre später, nachdem er Deutschland 1933 hatte verlassen müssen. Tschichold meinte nun, die von ihm angestoßene Neue Typografie entspreche in ihrer „unduldsamen Haltung“ „ganz besonders dem deutschen Hang zum Unbedingten, ihr militärischer Ordnungswille und ihr Anspruch auf Alleinherrschaft jener fürchterlichen Komponente deutschen Wesens, die Hitlers Herrschaft und den zweiten Weltkrieg ausgelöst hat.“

Diese Überlegung wurde von den damaligen Anhängern der Neuen Typografie als ungeheuerlich empfunden, galt das Bauhaus den Nationalsozialisten doch als „entartet“. Auch Hans Rudolf Bosshard gibt sich keine Mühe, den harten Vorwurf zu verstehen. Er tut als „abstrus“ ab, was endlich zu bedenken sein sollte: Ist Typografie politisch? Gibt es eine totalitäre Typografie?

Im Nachwort des Buches geht Jost Hochuli, namhafter Buchgestalter, auf diesen wunden Punkt auch nur kurz ein, den politischen Angriff auf die Neue Typografie: „Die Nazis hielten alle modernen Äußerungen, auf welchem Gebiet auch immer, für entartet und ‚kulturbolschewistisch‘, auch die anaxialen Arbeiten der neuen Typografie. Als ‚Kulturbolschewist‘ hatte Tschichold aus Nazideutschland emigrieren müssen. In der DDR war’s ähnlich: Da galt die Asymmetrie in der Buchgestaltung als ‚Formzertrümmerung, Nichtskönnertum und Dilettantismus‘.“ Der Beleg, den Hochuli für diese durch Ansicht der DDR-Buchproduktion sofort widerlegbare Behauptung anführt, ist ein in geringer Auflage erschienener kleiner Katalog der „Schönsten Bücher“ der DDR aus dem Jahre 1953. Begründen möchte Hochuli mit seinem Katalog-Zitat, daß sich Entwurfsgrundsätze dieser Art nicht ideologisch deuten lassen, weil der Antifaschismus zur ostdeutschen Doktrin gehörte, was allerdings auch ein falscher Schluß wäre, denn sowohl zum Nationalsozialismus wie zur sowjetsozialistischen Diktatur gehörte, grob verkürzt gesagt, die Bevormundung und Kontrolle der Kultur.

So eng hat Tschichold seine Bedenken gegen die „Kasernenhofästhetik“ der Neuen Typografie aber nicht gefaßt. Ihm ging es um den Zusammenhang vom Willen zur Moderne, zur unbedingten Rationalisierung, zum technischen Fortschritt im Gleichschritt mit sozialer Revolution, zur politischen Radikalität einerseits und andererseits einer industriellen Formsprache, die zum literarischen Buch ebensowenig paßt wie zu einem Plakat für klassische Musik. Und natürlich hielten die Nazis nicht alle Äußerungen der Moderne für entartet, sondern nur bestimmte Richtungen der Kunst. Die Nazis beseitigten 1941 die gebrochenen Schriften, sie schufen ein völlig neues, industrielles Design ihrer Politik, ihr Kasernenhof, ihre Vernichtungsfeldzüge wurden industriell. „Modern“ ist eben nicht automatisch gut; Tschichold, der über Typografie viel weitgreifender nachdenkt als Bill, nennt schon die maschinelle Produktion der Moderne „böse“, nämlich für den gelangweilten Arbeiter, und sondert sie vom Buch ab, dessen Gestalt und Ausstattung er weit vor der Industrialisierung als abgeschlossen entwickelt ansieht. Der Eingriff des Bauhaus-Industrie-Designs in die Typografie zerrt sie in der Tat auf den Kasernenhof, nur will man von Parallelen zwischen politischem Radikalismus und radikalem Design nichts hören, wenn man den Fortschritt stets als wahr und gut ansieht.

Bis heute steht Tschichold nicht nur als bedeutendster Typograf auf einem Sockel, er war auch der schärfste Denker, daran ändert diese neue Verherrlichung der „funktionalen“ und nur noch wie ein atavistisches Zitat wirkenden Typografie in dem wenig aufklärenden Buch von Hans Rudolf Bosshard nichts.

(Originalmanuskript aus der Bibliothek von www.druckerey.de, Erstdruck in der Süddeutschen Zeitung am 3. September 2012)


Untertitel: Der Typografiestreit der Moderne

Autor(en): Hans Rudolf Bosshard

veröffentlicht: 2012

Verlag: niggli Verlag

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3721208337



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