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Zwei widersprüchliche Definitionen von Typografie – und warum sie beide richtig sind

Ralf Herrmann

In unserem Artikel über die missverstandenen Typografie-Fachbegriffe wurde ein wichtiger Vertreter ausgelassen, da er völlig den Rahmen gesprengt hätte – nämlich den Begriff Typografie selbst. Als Leser von Typografie.info haben Sie sicherlich eine gewissen Vorstellung, was dieser Begriff bedeutet – sonst würden Sie sich kaum auf dieser Seite aufhalten. Doch wie würden sie Typografie kurz, klar, allumfassend und unmissverständlich definieren? Wahrlich keine leichte Aufgabe!

Ursprünglich beschrieb der Begriff allein die Erstellung von Textinformationen mittels vorgefertigter Zeichen (»Typen«), wie sie in unserem Kulturkreis seit Gutenberg üblich geworden ist. Die Betonung liegt dabei darauf, dass die immer gleichen Buchstabenvorlagen zum Einsatz kommen. Dadurch grenzt sich die Typografie von der Kalligrafie – dem (Schön-)Schreiben von Schrift – und dem Lettering – der Einzelanfertigung von Schriftbildern (z.B. als gezeichnete Logos) – ab. 

Die »vorgefertigten Zeichen« waren ursprünglich Bleilettern, aber auch Fotosatz-Schriften und die heute üblichen digitalen Fonts lassen sich hier problemlos einordnen. Denn ihre Zeichen wurden einmal von einem Schriftgestalter entworfen und können nun von der Vorlage (dem »Font«) beliebig oft reproduziert und zu Textinformationen zusammengesetzt werden. Die historische Definition von Typografie ist also auch heute noch gültig. Und nicht wenige wünschen sich daher, dass sie auch weiterhin die alleinige Bedeutung des Begriffes bleibt.

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Im Bleisatz liegt der Ursprung des Begriffes Typografie

 

Doch die Zeiten haben sich geändert – und gleichsam die Nutzung des Begriffes Typografie. Der Satz mit vorgefertigten Lettern ist nicht mehr bloß ein Arbeitsschritt beim Erstellen von Büchern und Zeitschriften, der von Spezialisten in Druckereien ausgeführt wird. Typografie ist heute überall und jeder, der elektronische Geräte besitzt, macht sich die Typografie in ihren technischen Definition zunutze. Ist man also schon ein Typograf, weil man mit dem Smartphone Nachrichten verschickt? 

Überraschenderweise hilft auch der Blick ins Bücherregal kaum, um Klarheit zu erlangen. Selbst in den Standardwerken zur Typografie wagen sich die Autoren selten an eindeutige Definitionen des Begriffs. Viel häufiger wird das Wesen eher bildhaft und allgemein beschrieben:

  • »Die Inszenierung einer Botschaft in der Fläche« (Lange / Spiekermann).
  • »Typographie strukturiert Information und bereitet sie nach ihrem Inhalt auf: nach sachlich-logischen und mit ästhetisch-emotionalen Gesichtspunkten.« (Kurt Weidemann)
  • »Die Typografie ist ein Mittel, vergleichbar der Sprache, mit der man Ideen, Gedanken und Gemütsbewegungen festhalten kann.« Raúl M. Rosarivo

An diesen Beschreibungen ist viel Wahres dran, aber belastbare, allumfassende Definitionen sind es freilich nicht. Sie werfen gegebenenfalls nur noch mehr Fragen auf. Sind dreidimensionale Buchstaben keine Typografie mehr, weil sie nicht mehr »in der Fläche« sind? Muss Typografie immer auf »Strukturierung von Informationen« aus sein oder kann sich nicht auch teilweise genau das Gegenteil wollen? 

Bedingt durch die technischen Umwälzungen, die die Technik des Schriftsatzes in die Hände von allen gelegt haben, machen sich heute immer mehr Menschen den Begriff Typografie zu eigen. War Typografie einmal feinstes Fachchinesisch des graphischen Gewerbes, findet sich der Begriff heute in unterschiedlichsten Bereichen wieder. Jugendliche dekorieren ihre Instagram-Bilder durch »Typografie-Apps« und Museen präsentieren Ausstellungen mit Typografie-Postern – und meinen dabei alle schriftlastigen Werke, egal ob sie durch typografischen Satz, Kalligrafie oder Lettering entstanden sind. Gleiches gilt auch für Typografie-Bücher, Typografie-Kurse und so weiter, die sich nicht nur auf den den Schriftsatz mit vorgefertigten Typen beschränken. 

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Der Verlag Hermann Schmidt Mainz gilt als Fachverlag für Typografie. Doch bedeutet dies, dass nach der historischen Definition des Begriffes Typografie Kalligrafie-Bücher fehl am Platze wären oder zumindest nicht in der Rubrik Typografie gelistet werden sollten?

 

Wie man sieht: Heute wird der Begriff Typografie viel weiter gefasst – manchmal wird er fast zu einem Synonym von Gestaltung. »Typografie und Gestaltung sind eins, denn es gibt kaum Typografen, die nicht gestalten.« (Rudolf Paulus Gorbach). Und so heißt es auch im entsprechenden Wikipedia-Artikel derzeit, dass man den Begriff Typografie »bis zur richtigen Auswahl des Papiers oder des Einbands ausweiten« könne. Doch eine zu weit gefasste Definition kann im Zweifel mehr Schaden als Nutzen bringen. Schwammige Definitionen widersprechen dem Zweck, überhaupt Definitionen aufzustellen. Denn umso schwammiger die Definition, umso größer die Gefahr, dass sich beim Einsatz des Begriffes die beteiligten Personen falsch verstehen. 

 

Soweit die Beschreibung des Ist-Zustandes, doch wie sollen wir nun mit dem Bedeutungswirrwarr um den Begriff Typografie umgehen? Sollen wir die historische Bedeutung weiter als alleinig richtig verteidigen und jeden auf eine vermeintlich falsche Verwendung hinweisen, der den Begriff weitläufiger versteht? Oder sollen wir uns vielleicht gar damit abfinden, dass der Begriff heute so schwammig geworden ist, dass jeglichen Definitionsversuche ohnehin zwecklos sind?

In meiner persönlichen Anwendung im Gespräch mit gestalterischen Fachleuten und fachfremden Menschen beschreite ich mittlerweile einen Ausweg, der meiner Meinung nach problemlos funktioniert. Ich habe einfach akzeptiert, dass der Begriff Typografie heute zwei Bedeutungen hat – eine spezifische und eine allgemeine. Hat man dies einmal akzeptiert, löst sich der ganze Streit um die eine richtige Definition in Wohlgefallen auf. Doch wohlgemerkt: Für sich genommen sind die beiden Definitionen durchaus klar und unmissverständlich beschreibbar und somit wird der Begriff von einem zu schwammigen Verständnis befreit. 

Auf den ersten Blick mag es eher kontraproduktiv klingen: Wieso sollen zwei, sich womöglich gar widersprechende Bedeutungen besser sein als eine? Doch man sollte sich dabei vergegenwärtigen, dass wir täglich problemlos mit solchen Doppelbedeutungen umgehen. Ein Beispiel gefällig? Der Begriff »Kochen« beschreibt eine spezifische Zubereitungsart von Lebensmitteln über das Erhitzen einer Flüssigkeit. Diese Zubereitungsart unterscheidet sich klar von anderen Zubereitungsarten wie dem Braten, Backen oder Grillen. Aber weil das Kochen auch die typische Zubereitungsart von Lebensmitteln ist, benutzen wir den Begriff gleichsam auch als generischen Begriff für alle Zubereitungsarten. Immer wenn die spezifische Zubereitungsart nicht bekannt oder nicht relevant ist, weicht man auf Kochen als generischen Überbegriff aus. Dies zeigt sich auch in den verwandten Begriffen: Niemand erwartet, dass ein Koch keine Braten zubereitet oder dass in einem Kochbuch keine Aufläufe stehen können. Je nach Kontext schließt der Begriff Kochen also andere Zubereitungsarten explizit ein oder aus – und niemand stört sich daran. Ganz im Gegenteil: Die Doppelbedeutung verhindert umständliche Beschreibungen. Und in gleicher Weise wird heute der Begriff Typografie verwendet. Mal spezifisch und ausschließend, mal generisch und einschließend – je nach Kontext. 

1. Die spezifische Bedeutung: Typografie als Technik

Die Typografie als Technik beschreibt die Erstellung und Darbietung von Textinformation über vorgefertigte Zeichenvorlagen. 

Wann immer Fonts zum Einsatz kommen, kann man im technischen Sinne von Typografie sprechen. Aussagen über Ästhetik, Leserlichkeit, Wirkung, Funktionalität etc. sind in diesem Zusammenhang zweitrangig, denn es wird schließlich explizit auf die Technik abgestellt. Die Typografie als Technik grenzt sich in diesem Sinne scharf von den Techniken Kalligrafie und Lettering ab. 

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Beispiele für Lettering. (Links von Anton Burmistrov, rechs von Martina Flor)

 

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Beispiele für Kalligrafie. (von Victoria und Vitalina Lopukhiny)

 

2. Die generische Bedeutung: Typografie als Lehre 

Die Typografie als Lehre beschreibt das Wissen um die Anwendung der Schrift. Dieses reicht von historisch, kulturwissenschaftlich Zusammenhängen bis zu den theoretischen und praktischen Grundlagen der gestalterischen Anwendung von Schrift in der Gegenwart.

Die Typografie überschneidet sich in diesem Sinne stark mit dem Fachbereich des Grafikdesigns, wo die Schrift nicht selten eine wesentliche Rolle spielt. Und dennoch: Schrift und Gestaltung sollten nicht synonym verwendet werden, nur weil die Anwendung von Schrift viele Bereiche der Gestaltung mittelbar berührt. Ein grafisches Muster auf dem Vorsatzpapier eines Buches ist nicht Typografie. Die Wahl des Papiers eines Buches ist nicht Typografie, nur weil später Buchstaben darauf gedruckt werden. Typografische Entscheidungen sind Entscheidungen, die ausdrücklich und unmittelbar die Schrift betreffen. 

Ob gerade von der Typografie als Technik oder Lehre die Rede ist, ergibt sich in der Regel problemlos aus dem Zusammenhang. Wann immer Sie einen Font benutzen, machen Sie sich die Typografie als Technik zunutze. Doch dies geht nicht zwangsläufig mit bewusster Gestaltung einher. Wenn Sie Microsoft Word öffnen, einen Satz eintippen und die Seite ausdrucken, haben sie sich der typografischen Technik bedient. Doch man kann schwer von typografischer Gestaltung sprechen, denn Sie haben keine gestalterischen Entscheidungen getroffen. Die Typografie als Lehre beschreibt jedoch die Grundlagen bewusster gestalterischer Entscheidungen, die zur besagten »Inszenierung« und »Strukturierung« der textbasierten Botschaft beitragen. 

In diesem Sinne wird die konkrete Technik (typografischer Satz/Kalligrafie/Lettering) oft nebensächlich. Alle drei Techniken sind schließlich auch eng miteinander verwandt. Schrift hat ihren Ursprung im Schreiben (Kalligrafie). Jedoch kann Lettering geschriebene Schrift simulieren und Druckschriften können wiederum Kalligrafie und Lettering simulieren. So ist für den Betrachter gegebenenfalls gar nicht ersichtlich (oder überhaupt interessant) mit welcher Technik eine Textinformation inszeniert wurde. Und spätestens dann springt genau wie bei den Zubereitungsarten von Lebensmitteln wieder der generische Begriff ein – also hier der Begriff Typografie. Typografie-Bücher und Typografie-Kurse beschäftigen sich mit Schrift und Schriftanwendung. Typografie-Poster sind schriftlastige Poster, egal mit welchen Mitteln sie entworfen und reproduziert wurden. Ein Buch über die Typografie-Geschichte beginnt nicht erst bei Gutenberg, sondern nimmt sicherlich auch zu den handschriftlichen Wurzeln Bezug. Und so weiter und so fort. 

 

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Ein kalligrafierter Buchstabe? Lettering im kalligrafischem Stil? Oder doch eine digitalisierte Druckschrift?

 

Die generische, weitläufigere Bedeutung von Typografie ist fest im Sprachgebrauch verwurzelt. Denn sie erfüllt hier eine nützliche Funktion, um das Wesen bewusster, gestalterischen Arbeit mit Schrift in einem Begriff zusammenzufassen. Es macht daher wenig Sinn, diese Verwendung ächten zu wollen, nur weil sie nicht der ursprünglichen historischen Verwendung entspricht. Beide Bedeutungen des Begriffes haben sich zu Recht ihren Platz im Sprachgebrauch erobert. Wenn man sich dafür öffnet, dass beide richtig sein können und wenn man im Gespräch immer sicher stellt, dass beide Seiten die gleiche Bedeutung meinen, ist gegen die Doppeldeutigkeit des Begriffes nichts einzuwenden. 

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