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Schriftmischung ist keine Hexerei

Ralf Herrmann

John Boardley ist ein britischer Autor und Typograf, der heute in Vietnam lebt. Sein 2007 ins Leben gerufenen Blog I Love Typography stieg binnen weniger Jahre zu einer der bekanntesten Typografie-Webseiten auf. Wie beim TypoJournal von Typografie.info folgte alsbald auch eine Expansion in die gedruckten Medien: das Magazin Codex.

 

In einem englischsprachige Kommentar äußerte sich Boardley zu den üblichen Empfehlungen zum Thema Schriftmischungen. Mit freundlicher Erlaubnis der Autors wird der Artikel hier in einer deutschen Übersetzung präsentiert. 

 

In den letzten Jahren habe ich jede Menge Unsinn darüber gehört, wie man Schriften mischen solle. Ich habe Tabellen gesehen, in denen man sich die passenden Schriften oder Schriftkategorien über ein Rastersystem zusammensuchen kann, habe über viele starre Regeln zur Schriftmischung gelesen und von zahllosen Mischungsvorschlägen gehört. Manche davon funktionieren gut, andere eher nicht. 

 

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Schriftmischungsvorschläge aus dem Magazine U&lc

 

In der Regel geht es bei der Schriftmischung doch um die Kombination zweier Anwendungsmöglichkeiten: Fließtexte und Überschriften. Und daher sollte man meiner Meinung nach bei der Schriftsuche und -mischung folgendermaßen vorgehen:

Wählen Sie zunächst die primäre Schriftart, also jene, in der der Großteil des Textes erscheinen wird. Dies wird also in der Regel die Fließtextschrift sein. Die Schriftwahl ist dabei keine Hexerei, bei der man mit okkulten Beschwörungen die Geister anrufen muss.  

Eine gute Textschrift ist leserlich (d.h. die Buchstabenformen sind erkenn- und unterscheidbar) und lesefreundlich (d.h. der Text kann auch auf Dauer ermüdungsfrei gelesen werden). 

Doch woher weiß man, ob eine Schrift für Fließtexte geeignet ist? Setzen Sie einfach 10 Seiten in der Schrift, drucken Sie den Text aus und lesen Sie ihn! Wenn Sie im Anschluss immer noch Zweifel haben, ist die Schrift wahrscheinlich ungeeignet. 

 

Es gibt heute so viele gute Textschriften, dass es eigentlich sehr einfach ist, eine passende zu finden. Dabei sollte man jedoch nie den Kontext  der Anwendung vergessen. Funktioniert die Schriftart auch wirklich in der anvisierten Schriftgröße und Satzart? Deckt der Zeichensatz des Fonts alle nötigen Glyphen ab? Funktioniert die Schrift auch auf dem Bildschirm, wenn dies vonnöten ist? Und wenn dies zutrifft: Wie ist die Darstellung in verschiedenen Betriebssystemen und Anwendungsprogrammen?

 

Ist die Textschrift gefunden, geht es an die Wahl der Schriftart für die Überschriften. Dabei hat man zwei Optionen zur Auswahl:

Einerseits kommt eine bewusste Kontrastierung zur Fließtextschrift in Betracht. Andererseits kann man sich aber auch fragen, ob überhaupt eine andere Schriftart vonnöten ist. Auch ein anderer Schnitt der Fließtextschrift kann hier gute Dienste leisten: eine fette, schmale oder kursive Version, Versal- oder Kapitälchensatz oder schlicht eine andere Schriftgröße.

 

Die Wahl ist ohnehin eher subjektiv. Lassen Sie sich also von anderen nicht einreden, dass die Schriftmischung nur nach starren Regeln funktionieren kann. Denn die zentrale Frage ist doch, was man erreichen möchte. Es geht vornehmlich um die klare Darstellung von inhaltlichen Hierarchien durch typografische Mittel. Der Leser soll sich so leicht wie möglich im Text zurechtfinden können, indem er klar zwischen Fließtext, Fußnoten, Überschriften, Zwischenüberschriften etc. unterscheiden kann. Wobei dies natürlich auch nicht heißt, dass es dabei nur um Funktionalität geht und kein Raum für künstlerische Freiheit bestünde. 

 

Benutzen Sie zur Auszeichnung bestimmter Texte einfach Versalsatz, Kapitälchensatz oder einen fetteren Schnitt. Selbst der gleiche Schriftschnitt wie im Fließtext kann verwendet werden, wenn er visuell abgesetzt oder einfach größer dargestellt wird. Wie viel größer? Muss sich dies dem Grundlinienraster unterordnen? Nicht unbedingt! Lassen Sie einfach Ihr Auge entscheiden!
Schriftfamilien besitzen nicht umsonst immer mehr Schriftschnitte. Eventuell benutzen Sie den fetten Schnitt schon im Fließtext zur Auszeichnung. Für Überschriften könnte sich dann zum Beispiel ein extrafetter Schnitt anbieten.

 

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Eine Möglichkeit, die einst weit verbreitet, aber heute selten benutzt wird, liegt darin, die gleiche Schriftart für alle Textelemente zu benutzen. Bei Inkunabel-Drucken war dies weit verbreitet. Womit ich nicht sagen möchte, dass Sie dies imitieren sollten, aber auch diese Bücher ließen und lassen sich problemlos lesen.  

 

Einige Schriftanbieter schlagen Schriftmischungen (zumeist aus der eigenen Schriftbibliothek) vor. Doch vergessen Sie nicht, dass es sich hierbei nur um Vorschläge, nicht um Gesetze handelt. Denn dies liegt mir sehr am Herzen: Wir sollten uns nicht von all diesen starren und unnötigen Regeln zur Schriftmischung einschränken lassen. Denn die zentrale Frage ist: Verhelfen unsere typografischen Entscheidungen dazu, dass der Leser den Text leicht und ermüdungsfrei lesen kann?

 

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Befragt man ein ganzes Buch voller Schriftmischungsvorschläge oder lieber seine Intuition bei der Schriftwahl?

 

Eventuell kennen Sie Mischungsvorschläge, die an vergleichbaren x-Höhen oder ähnliche Strichstärkenkontrasten ausgerichtet sind. So kann man natürlich vorgehen. Oder man traut einfach seinem Gefühl und seinem Augenmaß. Etwas, dass wir ohnehin täglich tun, wenn wir andere Dinge kombinieren – etwa unsere Kleidung oder Farben und und Materialien der Möbel in unserer Wohnung. Typografisch gestalten heißt nicht, dass man Schriftpaare aus einer Tabelle abliest, die sich ein Fachautor vor Jahrzehnten einmal ausgeheckt hat. Gute Designentscheidungen entstehen vor allem aus guten Geschmack. Und dieser wiederum besteht zu zwei Teilen aus Sternenstaub und zu acht Teilen aus Gelerntem und Erfahrung. 

 

Schriftmischung nach Tabellen ist dagegen wie »Malen nach Zahlen«. Wer sich bei Schriftmischungen auf die Vorschläge anderer bezieht, demonstriert damit nur die eigene Unfähigkeit, angemessene Designentscheidungen zu treffen. Aber lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Schriftmischung ist nicht so kompliziert wie Teilchenphysik. Lassen Sie sich aber auch nicht von vorgefertigten Schriftmischungsmodellen einschränken. Auf einige der überzeugendsten Schriftmischungen, die ich bisher gesehen habe, wäre ich selbst im Leben nie gekommen. Und selbst wenn erfahrene Schriftgestalter und Typografen gern bestimmte Schriftmischungen vorschlagen – auch sie sind angenehm überrascht von ungewöhnlichen und originellen Lösungen. Wir sollten deshalb nicht immer nur die eingefahren Wege beschreiten und jene Schriftmischungen wiederholen, die sich bereits in der Vergangenheit bewährt haben. 

Der römische Philosoph Seneca sagte einmal sinngemäß: Wer sich nur in den Fußstapfen anderer bewegt, kann nichts finden und ist noch nicht einmal wirklich auf der Suche. 

 

Also frisch ans Werk und Schriften gemischt!

 

John Boardley

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