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Was ein Blick auf 700 Hausschriften verrät

Ralf Herrmann

Seit vielen Jahren besitzt Typografie.info eine Hausschriften-Datenbank, die mit tatkräftiger Unterstützung unserer Mitglieder auf bereits circa 700 Einträge angewachsen ist. Nicht wenige Einträge waren aber verständlicherweise nicht mehr aktuell. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen wurde die komplette Datenbank nun umfassend aktualisiert und erweitert. Sämtliche Beiträge wurden überprüft und notfalls aktualisiert sowie mit zusätzlichen Bildern und Schlagwörter (für automatische Querverweise zwischen den Einträgen) versehen. Diese Arbeit ermöglichte auch eine interessanten Überblick zum Stand des Einsatzes von Hausschriften im Allgemeinen. 

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Neue Hausschrift für BMW-Motorräder

 

Kein Paradox: Exklusiv und unauffällig sind gleichermaßen im Trend

Unsere Hausschriften-Datenbank zeigt, dass der Wert von Hausschriften bei vielen Unternehmen und Organisationen durchaus gesehen wird. Der Anteil von exklusiven Hausschriften ist beträchtlich. Insbesondere bei den größeren, meist börsennotierten Unternehmen gehört eine exklusive Hausschrift zunehmend zum guten Ton. Interessanterweise scheint dabei aber die visuelle Eigenständigkeit des Auftritts nicht unbedingt das Hauptziel zu sein. Denn viele der Exklusivschriften sind nur Versionen von Schriftfamilien, die nicht nur für jeden erhältlich, sondern sogar in breiter Anwendung sind. Es dominieren weiter die Klassiker, zum Beispiel aus der Linotype-Bibliothek: Frutiger, Univers, Helvetica – egal ob in Originalversion, als »Neue«, »Next« oder Exklusiv-Version. Auch Erfolgsschriften der 1990er-Jahre wie die TheSans, FF Meta und sogar die Rotis halten sich weiter. Selbst wenn keiner dieser Klassiker zum Einsatz kommt, so sind doch zumindest die Kategorien klassisch: Grotesk in humanistisch, statisch oder geometrisch – so treten die meisten Unternehmen heute auf.

In diesem Umfeld braucht man für einen eigenständigen visuellen Auftritt gar keinen Schriftgestalter für eine Exklusivschrift beauftragen. Fast jede verfügbare Schrift, die nicht in eine dieser Kategorien fällt, kann sich wirksam von der Konkurrenz abheben. 

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Schon der simple Griff zu Serifenschriften (hier Fedra Serif für ERGO und ITC Legacy Serif für SwissLife) fällt im Einerlei der Groteskschriften auf. 

 

Webfonts überall. Roboto ist die neue Verdana.

Als sich Webfonts vor circa 10 Jahren technisch durchsetzten, war dies noch mit viel Skepsis verbunden. Nicht nur in Bezug auf die möglichen Probleme um Lizenzierung, Raubkopien und ähnliches. Nicht wenige fürchteten, die Webdesigner würden es nun mit der Fülle der neuen Möglichkeiten zu weit treiben und Websites würden zu verspielt und zu schlecht lesbar daherkommen. Die bildschirmoptimierten Schriften wie Verdana und Georgia waren in diesem Sinne kaum zu schlagen und daher auf nahezu jeder Website im Einsatz. 

Von den Core Fonts for the Web ist nun jedoch praktisch nichts mehr zu sehen. Nahezu alle untersuchten Websites von Unternehmen und Organisation benutzen grundsätzlich Webfonts. Selbst die durchaus plausible Mischung »Hausschrift für Überschriften, Systemfont für kleinere/restliche Texte« ist äußerst selten. Wer nun aber denkt, diese Einleitung wird zu dem Schluss führen, dass die Vereinheitlichung von Print und Web gelungen und abgeschlossen ist, muss leider enttäuscht werden.

Obwohl fast alle untersuchten Websites Webfonts verwenden, liefert ein beträchtlicher Anteil Webfonts aus, die nicht den Schriften in Printprodukten entsprechen. Stattdessen wird auf gängige kostenlose Schriften wie Roboto, Open Sans, Source Sans und so weiter gesetzt. Roboto führt hier übrigens mit großem Abstand. 

Ein wesentlicher Grund für den Griff zu diesen Schriften liegt sicherlich in den Lizenzbedingungen und den verbundenen Kosten. Mit der Open Font License ist man stets auf der sicheren Seite und muss keine Angst vor finanziellen Forderungen haben, nur weil die Website plötzlich zu viele Seitenabrufe pro Monat generiert. Dennoch verwundert der Einsatz dieser kostenlosen und generischen Schriften zumindest bei den größeren Unternehmen, wo der Preis für die Webfont-Lizenzen oder gar Exklusivlizenzen keine größere Rolle spielen sollte.

Im Webdesign gibt es ja seit langem das bekannte Motto »Mobile first«. Es besagt, man beginnt die Gestaltung nicht mit der Desktop-Version der Website und versucht diese dann auf die kleinen Bildschirmen von mobilen Geräten herunterzubrechen. Stattdessen beginnt man mit der Mobilansicht. In gleicher Weite bräuchte es beim Corporate Design wohl oft ein »Webfonts first« oder gegebenenfalls »App-Fonts first«. Die Wahl der Hausschrift sollte eventuelle Einschränkungen und Kosten beim digitalen Einsatz berücksichtigen – womöglich gar als entscheidendes Kriterium. Und damit ist nicht gemeint, im Corporate-Design-Handbuch lediglich Ersatzschriften zu benennen. Vielmehr sollte gar nicht erst eine Hausschrift gewählt werden, wenn absehbar ist, dass etwas (zum Beispiel das Budget des Auftraggebers) gegen den digitalen Einsatz spricht. Das Studium der 700 Hausschrift-Einsätze deutet jedenfalls darauf hin, dass der Webfont-Einsatz bei vielen Corporate Designs nicht oder nicht hinreichend mitgedacht wurde und die Webdesign-Agenturen dann notgedrungen auf Open-Source-Schriften ausweichen mussten.

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Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch neue Wege, wie man sie etwa mit der IBM-Plex-Sippe beschritten hat. IBM gibt die eigene Hausschrift direkt als Open-Source-Schrift unter Open Font License frei. Damit ist zwar keine Exklusivität garantiert, aber man ist auch alle lizenzrechtlichen Sorgen los und die Schriftsippe kann in der Zukunft leicht wachsen und aktualisiert werden. 

Office: Der Feind des Corporate Designs 

Der letzte Abschnitt wies bereits auf die teilweise mangelnde Einheitlichkeit zwischen der Welt des klassischen Printdesigns und den digitalen Anwendungen (Websites, Apps etc.) hin. Doch es kommt noch schlimmer. Denn die vorgenannten Inhalte werden in der Regel von professioneller Hand gestaltet. Dies gilt auch für viele von den Websites herunterladbaren Inhalte wie PDF-Prospekte und Geschäftsberichte. Doch ein Großteil der untersuchten PDF-Downloads geht nicht durch die Hände von Grafikdesignern. Vielmehr werden sie von Mitarbeitern der Unternehmen und Organisationen in Office-Programmen selbst erstellt. Hier lässt verständlicherweise nicht nur die Gestaltung zu wünschen übrig, sondern auch die Berücksichtigung des Corporate Designs. Die Verwendung von gestalteten Mustervorlagen war kaum zu finden. Typisch war ein freier Satz mit voreingestellten Office-Schriften wie Times New Roman oder Calibri. 

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Gestalteter Webauftritt vs. PDF-Download in Calibri von der gleichen Website

 

Fazit

Beliebige Fonts lassen sich technisch heute leicht in digitale Anwendungen wie Websites, Apps, E-Books und PDFs einbetten. Dies macht ein einheitliches Erscheinungsbild technisch möglich. Immer mehr Unternehmen und Organisationen machen davon Gebrauch, viele jedoch auch (noch) nicht.  Hier ist also noch viel Luft nach oben. 

Und bei der Wahl der Hausschriften würde ich mir grundsätzlich mehr Mut wünschen. Wir wissen in der Branche alle, wie wirksam eine Schrift als Identitätsträger sein kann. Man denke zum Beispiel an die Corporate A•S•E für den Einsatz bei Mercedes-Benz. Corporate Designs können dabei freilich hohe Anforderungen an Schriftfamilien stellen und bis zum Ende des 20. Jahrhundert war die Zahl der Schriften, die diese Anforderungen abdecken konnten, in der Tat noch beschränkt und die exklusive Entwicklung einer Hausschrift nicht für jedes Unternehmen bezahlbar. Doch heute stehen hunderte unverbrauchte Schriftfamilien oder gar Schriftsippen bereit, die mit ihrem Zeichenvorrat und ihrem Sprachausbau problemlos den Anforderungen von komplexen Corporate Designs gewachsen sind.  

Und mit variablen Schriften und SVG-Fonts (für Mehrfarbigkeit, Transparenzen usw.) warten nun sogar noch neue Möglichkeiten auf einen Einsatz in Corporate Designs. 

 

Zur Hausschriften-Datenbank:

https://www.typografie.info/3/hausschriften.html/

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