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Woher kommt das lange s?

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Tobias L

Ich habe gerade einen Online-Kurs zur Karolingischen Minuskel belegt und in dieser Schrift kamen ja beide Formen des s vor. Die internationalen Teilnehmer:innen stellten dann die Frage: Wo kommt diese ungewohnte Form eigentlich her? Hier wurde schon vieles diskutiert – wie verwendet man das ſ (im Deutschen/Fraktursatz), wie sieht es in der Antiqua aus und warum ist es verschwunden? Aber zu der Frage im Workshop konnte noch keine Antwort gefunden werden …

Meine Bücher zur Schriftgeschichte im Regal schweigen sich auch darüber aus. Es ist nur soweit klar, dass irgendwann zwischen der römischen Unzialschrift bzw. der Halbunzialen und den beiden römischen Kursivschriften etwas passiert ist. Hier gab es mal eine Theorie: 

 

Die wurde von @Phoibosallerdings verworfen. 
Ein Workshopteilnehmer hatte eine Theorie gehört und wiedergegeben, nach der es um die Schnelligkeit beim Schreiben geht. Die Formen kann ich allerdings nicht ganz nachvollziehen. Seine Skizze will ich hier nicht ohne Erlaubnis verlinken, reiche sie aber nach, wenn ich sie nachgezeichnet habe.

Gibt es hier vielleicht irgendwelche (neuen) Erkenntnisse zum Ursprung des ſ?

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vor 12 Minuten schrieb Tobias L:

Gibt es hier vielleicht irgendwelche (neuen) Erkenntnisse zum Ursprung des ſ?

Eigentlich ist die Frage ein bisschen seltsam. Man fragt ja üblicherweise auch nicht: wo kommt das kleine r her. Es kommt halt aus den jeweiligen Großbuchstaben, die in einem gewissen Schreibfluss dann zum Beispiel Ober- und Unterlängen ausgebildet haben. Insofern ist das mit dem Schnellschreiben sicher nicht verkehrt. Die Schreibart des ſ passt da bestens in Bild: 

https://de.wikipedia.org/wiki/Langes_s#/media/Datei:Entstehung-langes-s-950-px.jpg

Das Besondere kommt ja erst später durch die zwei Formen. Die Entstehung der ersten Form ist auch nicht anders als die Frage, warum haben p und q Unterlängen. So hat sich’s halt entwickelt. Die Form ist im Originalkontext nicht »ungewöhnlich«. Es ist nur heute ungewöhnlich, weil nicht mehr in breiter Anwendung. 

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Microboy

Dann wäre die Frage wie es zu den zwei unterschiedlichen Formen kam? Sind sie parallel in unterschiedlichen Regionen entstanden und haben sich später gemischt?

 

In unterschiedlichen Sprachräumen gab bzw. gibt es ja durchaus deutliche Unterschiede (Dialekte - Siehe Florian Hardwig hier und hier) bei Handschriften.

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Tobias L

So, hier noch die besagte Theorie von Jost Nijssen, die er von Giovanni de Faccio hat, nachgereicht:

IMG_1088.jpg

Das runde s z. B. in der römischen Unzialen besteht aus drei Strichen. Mit etwas gutem Willen lassen sich Strich 1 und 2 zusammen schreiben. Wenn man aus diesem dann am Ende ohne Absetzen bei steigender Geschwindigkeit gleich hoch geht zum oberen Strich 3, könnte etwas wie die dritte Form entstehen. Wenn dann die Punze eh zuläuft kann man das s auch wie in der Fraktur aufbauen.

es geht also nicht nur darum, warum es ein langes und ein rundes s gibt, sondern eher warum und wie die Form so entstanden ist – explizit mit der Serife auf x-Höhe und dem Buckel, den man manchmal in der Carolingian aber besonders in den gebrochenen Schriften sieht.

So ganz will mir diese Theorie nicht einleuchten und die mir bekannten Vorlagen/Beispiele lassen das auch nicht unbedingt so erkennen.

IMG_1085.jpg

In der jüngeren römischen Kursiven ist das s eher aus zwei Strichen zusammengesetzt und der Deckel vom s ist eher diagonal angesetzt (s. letzte Zeile erster Buchstabe)

IMG_1087.jpg

Hier eine Karolingische Minuskel. 1. Der Stamm ist m. E. viel zu gerade um aus dieser runden Bewegung wie oben postuliert zu kommen und 2. warum sollte es beim Anstrich auf einmal einen Richtungswechsel geben? Beim runden s fängt man gegen den Uhrzeigersinn an, hier auf einmal mit dem Uhrzeigersinn?

IMG_1086.jpg

Bei Claude Mediavilla kann man ganz gut sehen, dass das s eher aus einem Stamm mit einer Diagonalen zusammengesetzt wurde. Vielleicht habe ich hier schon einen Teil der Antwort gefunden.

IMG_1083-2.jpg

(Hier ist ein größeres Bild mit der ganzen Seite verlinkt)

Deswegen hatte ich das bisher so verstanden, ohne genaueres Hintergrundwissen zu haben:

IMG_1089.jpg

Der erste und zweite Strich verschmelzen bei steigender Schreibgeschwindigkeit zu einem Strich und werden immer senkrechter dabei, der ›Deckel‹ aber dennoch dran gesetzt und entwickelt sich zu der Diagonalen. Da senkrechte Stämme immer mit der Serife anfangen, ist diese an der Stelle obligatorisch. Wenn ich die Schreibgeschwindigkeit wieder reduziere und die Striche wieder definierter haben will komme ich irgendwann zu dem Fraktur-s.:-?

Vielleicht weiß ja noch irgendwer genaueres dazu?!

vor 20 Stunden schrieb Ralf Herrmann:

Man fragt ja üblicherweise auch nicht: wo kommt das kleine r her.

Nun ja, wenn ich mich aber z. B. frage, warum wir mal so ein kleines r haben und mal das eher französische, das wir aus Schreibschriften kennen, findet man zumindest eine Erklärung, wie sich das entwickelt hat:

IMG_1082.jpg

Oder auch für A und a oder E und e findet man Erklärungen (zumindest wie sich die Formen entwickelt haben):

IMG_1084.jpg

Und das sind Fragen, die auch in meinen Kursen immer wieder auftauchen.

vor 9 Stunden schrieb Microboy:

Sind sie parallel in unterschiedlichen Regionen entstanden und haben sich später gemischt?

Zumindest in unterschiedlichen Schriften sind sie meiner Erkenntnis nach parallel entstanden. Soweit ich weiß, gab es halt Schriften für den ›alltäglichen Gebrauch‹, Verträge etc., die schnell geschrieben wurden und eben Inschriften und Indizes von höherer Wertigkeit, die feiner geschrieben wurden. Und dann auch noch die berühmten Graffitis aus Pompeji, die mit Quast oder Pinsel an grobe Mauern geschrieben wurden.

vor 9 Stunden schrieb Microboy:

Siehe Florian Hardwig hier und hier

Das ist eine schöne Arbeit, ich habe ›damals‹ die Präsentation im Museum der Arbeit in HH gesehen. Das war irgendwie in Verbindung mit Prof. Hans Andree, ich weiß nicht mehr, ob er da der Prüfer war oder so!?

 

Quellen:

Skizzen von mir, rundes r von Max Bollwage und der Rest von Claude Mediavilla

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Phoibos

Zuerst danke für die schönen Präsentationen!

Ich weiss nicht, ob ich es schon mal irgendwo erwähnt habe, ich füge das hier mal etwas notizenhaft an:
Zu Zeiten der Antike wurde die lang-/rund-s-Schreibung (nenn ich mal so) auch genutzt, um Wortgrenzen für, aus unserer Sicht, illiterate Menschen kenntlicher zu machen. So gut wie niemand war in der Lage, flüssig zu lesen, wie es heute das Ziel schulischen Unterrichts ist.
Ebenfalls war die Schrift nicht formalisiert, es gab regionale und individuelle Usus. Auch war die Schreibrichtung nicht immer sofort ersichtlich und einzelne Glyphen wurden von den ungeübten Schreibern schnell mal gedreht, gespiegelt, ...

 

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