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Schriftmuster Tannenberg

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Lingua Tertii Imperii – das »Notizbuch eines Philologen« hat man in der DDR viel gelesen, schon in der Jugend, weil man daraus auch etwas über die Sprache der eigenen Politiker erfuhr, die einige Begriffe aus dem Dritten Reich mitgenommen hatten. Mir ist »der Garant« noch in Erinnerung, den Klemperer bei den Nazis findet. Und in der DDR wurde dann der Sozialismus »der Garant für den Frieden«.

Natürlich hat Sprache eine Bedeutung, und ganz gewiß erfährt man auch etwas über die Musik der »Neuen Deutschen Welle« aus diesem Begriff. Nur ohne Untersuchung geht es nicht, weil man den Kontext verstehen muß. Und dafür ist LTI von Victor Klemperer sehr hilfreich. Gibt's als Reclam-Büchlein für wenig Geld. Der Begriff der »Gesinnung« hat mehrfach einen Wandel in seiner Bedeutungsschwere erlebt. In der Diktatur ist die richtige Gesinnung förderlich, die falsche kann tödlich werden. Die »neue deutsche Formgesinnung« ist in jedem Wortteil interessant. Man muß sich nur vor Augen führen, was man im Jahr dieser Parole für »neu« und was in den Jahren zuvor schon für »deutsch« galt und wie »Gesinnung« vom 30. Januar 1933 an gewichtet wurde und wie sich die neue Politik um die Form und ihre »Entartungen« kümmerte.

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Ist doch nun nicht solange her, dass Du das geschrieben hast, Ralf.

 

Ja, eben. Ich weiß genau, was ich geschrieben habe und nichts davon entspricht deiner »Zusammenfassung«. Nicht mal ansatzweise. Du scheinst das komplett in den falschen Hals bekommen zu haben, wenn du dich gegen vermeintliche Reduzierung und Einseitigkeit wehrst. Darum ging es nicht. Es ging um »typisch« – etwas ganz selbstverständliches, dass man in allen Epochen und Regionen der Schriftanwendungen bestimmen kann. Darin liegt keine Wertung und schon gar keine Abwertung, die dir da wohl missfällt. 

 

Wobei natürlich schon allein durch diese Meinungsvelfalt klar wäre, dass es keine typische Schrift mit einer allgemeinen DDR-Assoziation gibt. Zumindest nicht vergleichbar mit der Nazizeit und der Schaftstiefelgrotesk. Was ich ja nur nochmal eindeutig klarstellen wollte.

Und schon widerspreche ich wieder. Natürlich gibt es typische DDR-Schriftanwendungen, insbesondere wenn man den echten Kontext mit zeigt und nicht nur die Schriftformen selbst. Es ist ja genau dieser Kontext, der die Assoziation ausmacht und auch für die Schaftstiefelgrotesken prägend ist. 

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Aber wie soll das gehen, wenn jeder neue Beweis für die Verstrickung der Macher dieser Schriften als Marketinggeschwurbel abgetan wird, das natürlich nichts mit den Schriften »an sich« zu tun hat?

 

Ich wollte nichts abtun, tut mir leid, wenn sich das bei mir so las. Was ich meinte ist dies: War diese Formulierung die eines einzelnen Werbemenschen der Schriftgießerei (natürlich beeinflusst vom Geiste der Zeit, das will ich überhaupt nicht abstreiten) oder war das ein Begriff, der damals allgemein geläufig war? Was mir daran interessant erscheint, ist die Möglichkeit, dass man in letzterem Falle einen Ansatz zur weiteren Recherche hätte. 

 

Versteht mich nicht falsch – ich habe eigentlich überhaupt keine Aktien im Thema Gebrochene Schriften, ich habe mich damit nie aktiv befasst, ich verwende sie nicht. Ich habe kein heißes Herz, wenn es um diese Schriften geht. Mich interessiert aber die Diskussion darum, gerade was die historischen Einordnung betrifft – und ich lerne gerne dazu. 

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Und schon widerspreche ich wieder. Natürlich gibt es typische DDR-Schriftanwendungen, insbesondere wenn man den echten Kontext mit zeigt und nicht nur die Schriftformen selbst. Es ist ja genau dieser Kontext, der die Assoziation ausmacht und auch für die Schaftstiefelgrotesken prägend ist. 

Erstens sprach gutenberger von Schrift und nicht –anwendung. Und bei letzterer, gut einen „echten Kontext“ könnt man sicher konstruieren. aber auch mit Schaftstiefelchen leichter als mit einer DDR-Schrift Deiner Wahl. Aber machen wir es halt mit einem simplen Mustertext mit einer DDR-Schrift Deiner Wahl und ich nehm die Thannenberg. Und dann gehen wir hausieren damit und fragen die Assiziationen ab. Ich glaub fast, die Übung können wir uns sparen.

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Erstens sprach gutenberger von Schrift und nicht –anwendung. Und bei letzterer, gut einen „echten Kontext“ könnt man sicher konstruieren.

Nein, nicht »konstruieren«. Der ist da. Müssen wir das wirklich diskutieren? So wie es typische Schriftanwendung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich, in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in England oder wo auch immer gibt, so gibt es typische Schrift und Schriftanwendung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Staatsgebiet der DDR. 

 

Aber machen wir es halt mit einem simplen Mustertext mit einer DDR-Schrift Deiner Wahl und ich nehm die Thannenberg. Und dann gehen wir hausieren damit und fragen die Assiziationen ab. Ich glaub fast, die Übung können wir uns sparen.

Und dann sage ich genau wie bei deinem letzten Beitrag:

Korrekt, aber was schließen wir daraus? Du nutzt das Wort Assoziationen. Über die streitet hier absolut niemand. Wir streiten darüber, ob mehr als Assoziationen dahinter stecken. Der in den Raum gestellte Test hilft uns da also nicht geringsten weiter, weil er ja nur Assoziationen abfragen würde.*

 

 

 

*) Es würde mich auch nicht mal wundern, wenn die zu erwartenden Assoziationen nicht mal speziell bei Schaftstiefelgrotesken angesprochen werden, sondern bei den meisten gebrochenen Schriften, also auch der großen Zahl ebenjener Schriften, die schon historisch-chronologisch ganz weit weg von der Naziherrschaft sind. 

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Was heißt mehr als Assoziation? Ich sag, die Schaftstiefler haben die Schriften bewußt so gestaltet um die Bedürfnisse der Chefideologen eine Schrift betreffend zu befriedigen. (ob jetzt aus ideologschen,ökonomischen, sportiven oder anderen Gründen sei mal dahingestellt.) Und ein wesentliches Bedürfnis wird wohl gewessen sein, bestimmte Assoziationen zu wecken.

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Wenn die Tannenberg tatsächlich einer Rehabilitierung bedürfte, ist diese bereits 1945 geschehen. Im übrigen ein für mich schönes Beispiel für die Lesbarkeit dieser Schrift: Das Stuttgarter Schuldbekenntnis

 

 

Wie steht es denn mit den neuesten Reduktionen von gebrochenen Schriften wie der Ode oder der Eskapade? Spielen die nicht, verzeiht mir meine kunstgeschichtliche Unkenntnis der Formen, in der gleichen Liga wie die Grotesk-Gotischen? Ich mag übrigens diesen Terminus, den ich bei Helzel im Prospekt fand, wie auch gebrochene Grotesken ob der Alliterationen.

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Was ich meinte ist dies: War diese Formulierung die eines einzelnen Werbemenschen der Schriftgießerei (natürlich beeinflusst vom Geiste der Zeit, das will ich überhaupt nicht abstreiten) oder war das ein Begriff, der damals allgemein geläufig war?

Genau so hatte ich Dich verstanden.
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So wie es typische Schriftanwendung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich, in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in England oder wo auch immer gibt, so gibt es typische Schrift und Schriftanwendung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Staatsgebiet der DDR.

Ganz klar ist mir dein Gedanke noch nicht. Meinst du mit der typischen Schrift eine oder mehrere, die es woanders nicht gegeben hat oder eine, die durchaus auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten typisch war? Und wie definierst du das Typische? In der Schrift allein oder nur in der Anwendung? Typisch war für die DDR das Vorhandensein einer Druckgenehmigungsnummer (außer auf bestimmten kleinen und zumeist privaten Akzidenzen). Auf jeder Speisekarte stand eine, ich hatte sogar als Lehrling eine Maschinensatzzeile, die unter jede meiner Arbeiten gestellt wurde. Das ist typisch für DDR-Drucksachen. Aber wenn ich mir einen Tisch voll von Visitenkarten der 1960er Jahre vorstelle, sagen wir, Visitenkarten von ost- und westdeutschen Notaren, schwarz auf weiß, Buchdruck, könnte man dann anhand der Typografie die DDR-Karten herausfinden? Ich kann mir das nicht recht vorstellen. Im Unterschied zu den Tannenbergartigen, die es fast nur im Dritten Reich gab.

Die Vorstellung, daß die Tannenberg, National usw. den Zeitgeist des Dritten Reichs spiegeln, ist keine neue. Hier wird manchmal so getan, als seien das völlig abwegige Vorstellungen.

»Angesichts der öffentlichen Diffamierung humanistischer Wertvorstellungen hielten sich die bekannten Schriftkünstler reserviert vor einer Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern zurück. Zweit- und drittrangige Graphiker erkannten die Marktlücke und züchteten eine Form der Gotisch, bei der mit primitiver Einfallslosigkeit die Figuren gleichgestaltet wurden. Es entstanden so abstoßende Schriften wie die Tannenberg, die Element, die National oder die Gotenburg. Die Konturen vieler Figuren schienen mit dem Lineal gezogen. Ihre Formen widerspiegelten den Gleichschritt und die Disziplin, den die Herrschenden propagierten. Für die Schriftkunde müßte es eine interessante Aufgabe sein, die psychologischen Mechanismen für einen solchen Eindruck zu erklären.

Aus den hinterlassenen Manuskripten von Stanley Morison, einem der besten Kenner der Schriftgeschichte, erschien 1972 in London unter dem Titel »Politics and Script« ein höchst interessantes Buch, das aber von englischen Rezensenten eher kritisiert wurde. Sie wollten nicht wahrhaben, daß die Politik einen wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der Schrift gehabt hätte. Man wollte die Kunst der Schrift nicht in die Niederungen der Personal- und Tagespolitik hinabgezogen wissen. Die Entwicklung der Fraktur beweist das Gegenteil.«

Albert Kapr, Fraktur, 1993

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Es würde mich auch nicht mal wundern, wenn die zu erwartenden Assoziationen nicht mal speziell bei Schaftstiefelgrotesken angesprochen werden, sondern bei den meisten gebrochenen Schriften, also auch der großen Zahl ebenjener Schriften, die schon historisch-chronologisch ganz weit weg von der Naziherrschaft sind.

Das würde ich sogar erwarten.
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[…] Im Unterschied zu den Tannenbergartigen, die es fast nur im Dritten Reich gab.

 

Die Grotesk-Gotischen sind Schriften, die einer damals neuen Schriftkategorie angehörten. Sie wurden von den damaligen Machthabern genutzt. So kam es zu einer gedanklich-emotionalen Verknüpfung zwischen Schaftstiefelgrotesk und Nationalsozialismus. Gerade, dass Tannenberg, National und Konsorten eine neue Art von Schrift waren, macht die Verbindung so prägend.

 

Die Typoart-Schriften lassen sich alle in bereits vorher gut gefüllte Kategorie-Schubladen einordnen. Sie waren Renaissance-Antiquas, klassizistische Antiquas, konstruierte Groteske. Ähnliche Schriften wurden vorher, gleichzeitig und später auch von anderen Gesellschaften genutzt. Sie sind nicht eindeutig DDR-assoziiert. (Dabei will ich nicht abstreiten, dass ein Kenner die aus diesen Schriften gesetzten Beispiele der DDR zuordnen kann. Aber es fehlt die starke Prägung.)

 

Deshalb hatte ich mein Gedankenexperiment aufgestellt, das Gutenberger wahrscheinlich missverstanden hat.

 

Stellt euch bitte vor, die Dax wäre in der DDR erschaffen und dann von den DDR-Machthabern massenhaft für ihre politischen Drucksachen genutz worden. Und stellt euch weiter vor, dass die spornlosen Schriften später nicht mehr (oder nur noch selten) eingesetzt worden wären, dann wäre – meiner Meinung nach – auch eine stärkere Assoziation entstanden, als es nun bei den Typoart-Schriften der Fall ist.

 

Hätten die Nationalsozialisten nicht auf herkömmliche Fraktur und gebrochene Grotesken gesetzt, sondern von Anfang an ihr Propaganda beispielsweise aus eine klassizistischen Antiqua gesetzt, wäre bestimmt ebenfalls keine solche starke Assoziation entstanden, da Schriften dieser Kategorie bereits in der Vergangenheit auch andere Felder besetzt hatten.

 

Ob die Schriftschöpfer dem jeweiligen politischen Lager angehörten, kann man tatsächlich nur sagen, wenn man das in jedem Einzelfall untersucht. Das ändert jedoch nichts daran, dass die gedankliche Verbindung zwischen Schrift und politischem System hergestellt wird.

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Die Vorstellung, daß die Tannenberg, National usw. den Zeitgeist des Dritten Reichs spiegeln, ist keine neue. Hier wird manchmal so getan, als seien das völlig abwegige Vorstellungen.

»Angesichts der öffentlichen Diffamierung humanistischer Wertvorstellungen hielten sich die bekannten Schriftkünstler reserviert vor einer Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern zurück. Zweit- und drittrangige Graphiker erkannten die Marktlücke und züchteten eine Form der Gotisch, bei der mit primitiver Einfallslosigkeit die Figuren gleichgestaltet wurden. Es entstanden so abstoßende Schriften wie die Tannenberg, die Element, die National oder die Gotenburg. Die Konturen vieler Figuren schienen mit dem Lineal gezogen. Ihre Formen widerspiegelten den Gleichschritt und die Disziplin, den die Herrschenden propagierten. Für die Schriftkunde müßte es eine interessante Aufgabe sein, die psychologischen Mechanismen für einen solchen Eindruck zu erklären.

 

Soll ich zum 6. Mal oder so auf den späten Willberg verweisen, der eben diese Aussagen von Kapr und sich selbst behandelt?

Man achte doch nur mal auf die beschreibenden Vokabeln von Kapr und auch von dir. »gleichgeschaltet«? Ist das ein Begriff, den wir in sachlichen Schriftbeschreibungen verwenden oder werden hier Gefühle und Assoziationen aus der bekannten Anwendung entlehnt? Primitiv/einfallslos – siehe Willberg. Warum wurde die Reduktion der Schriftformen in den 1920ern bei der Antiqua gefeiert, aber bei der gebrochen Schrift ist sie primitiv, stumpf, gar brutal, grobschlächtig und was nicht noch alles. Das sind einfach keine sachlichen Analysen von Schriftformen. Sieh entstehen nicht aus dem, was du und Kapr da wirklich sehen, sondern was ihr wisst und aus eurem Wissen in die Schrift reininterpretiert. Aber das hatten wir ja alles schon …

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Dies hätte es sicher unter jeder Regierungsform so gegeben, sofern diese eben die Probleme der Zeit zu lösen vermochte. Schließlich hatte sich ja auch im revolutionären Russland eine deutlich der Zeit entsprechende Grafik-Sprache herausgebildet.

Da gibt es aber doch einen wichtigen Unterschied: Die sowjetische Diktatur hatte über den Kommunismus eine Ausrichtung auf das Internationale. Alte nationalistische Zöpfe wurden abgeschnitten, man denke etwa an die Eliminierung alter kyrillischer Buchstaben. Im Gegensatz dazu waren die Nationalsozialisten eben nicht nur sozialistisch-modern, sondern auch nationalistisch-deutsch, eine Verbindung von Moderne und Deutschtum, wie sie sich ähnlich auch bei den Schaftstiefelgrotesken findet.

 

Diese Verbindung von Moderne und Deutschtum bei den Nationalsozialisten ist ein von der Geschichtswissenschaft eingehend behandeltes Thema. Riccardo Bavaj fasst es etwa wie folgt zusammen: «Wenn auch selbst nur partiell modernisierend und innovativ wirkend, war jener moderne totalitäre „Rassenstaat“ in seinem Kern ausgesprochen vorwärtsgewandt und zukunftsgerichtet – und nicht zuletzt auch deswegen für viele Zeitgenossen so attraktiv» (Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München: Oldenbourg, 2003, S. 201).

 

Interessant finde ich übrigens – ich habe mich gerade noch mal an den Anfang dieses Threads begeben – mit welchen Worten die Schriftgießerei die Tannenberg damals in ihrem Schriftmuster (bei Microboys Bilder zu Beginn dieses Threads zu finden) bewarb: »Der echte Ausdruck neuer Deutscher Formgesinnung!« Das sind markige Worte! Über diese Formulierung könnte man ja mal diskutieren. War die »neue deutsche Formgesinnung« nur Marketinggeschwurbel der Gießerei oder verbirgt sich hinter dem Begriff eine wie auch immer geartete Gestaltungsmode, die in damaliger Zeit auch so bezeichnet wurde? Taucht dieser Begriff noch in anderen Texten aus dieser Zeit auf?

Auch andere Schriftarten wurden mit ähnlichen Worten angepriesen, vgl. etwa Schaftstiefelgrotesk? #249.

 

Korrekt, aber was schließen wir daraus? Du nutzt das Wort Assoziationen. Über die streitet hier absolut niemand. Wir streiten darüber, ob mehr als Assoziationen dahinter stecken. Der in den Raum gestellte Test hilft uns da also nicht geringsten weiter, weil er ja nur Assoziationen abfragen würde.*

Was sollte denn mehr dahinter stecken als eine Assoziation? Es ist der Normalfall, dass die Verbindung von Form und Inhalt nichts weiter als eine Assoziation darstellt. Auch die Verbindung einer Form wie A mit dem Laut [a] ist bloss assoziativ – in der Cherokee-Silbenschrift beispielsweise ist die Form Ꭺ mit dem Laut [ɡo] assoziiert. Selbst wenn die Nationalsozialisten ganz offiziell die Schaftstiefelgroteske zu ihrer Lieblingsschrift erklärt hätten, so bliebe es trotzdem nichts weiter als eine Assoziation.

 

Die Frage ist nicht, ob die Verbindung der gebrochenen Schriften – und insbesondere der Schaftstiefelgrotesken – mit dem Nationalsozialismus nur eine Assoziation darstellt. Die Frage ist, wie sehr diese Assoziation wirkt. Ich denke, sie ist eine besonders wirksame Assoziation, die auch von typografisch nicht versierten Leuten sofort erkannt wird und weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Es lassen sich unschwer zahlreiche Beispiele finden, wo diese Assoziation bis heute typografisch eingesetzt wird. Ein weiteres Beispiel ist etwa der Umschlag des Buchs NSCI.

 

Jürgen Spitzmüller hat die grössten deutschen Textkorpora analysiert und folgert: «Zwar sind gebrochene Schriften kein großes Thema des rezenten massenmedialen Diskurses [...], doch wenn die Schriften und deren Gebrauch thematisiert werden, so geschieht dies häufig mit Bezug auf Konservativismus, Nationalismus oder Nationalsozialismus» (Jürgen Spitzmüller: Graphische Variation als soziale Praxis. Eine soziolinguistische Theorie skripturaler ›Sichtbarkeit‹, Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, S. 307f.) Er weist auch auf eine offensichtliche Assoziation hin, die hier noch niemand hat ansprechen mögen – verständlicherweise, aber man sollte es dennoch nicht verschweigen:

 

Sobald ein Bezug auf Nationalismus und Nationalsozialismus gewünscht ist, greifen politische Texte immer noch gerne auf sie [gebrochene Schriften] zurück. So verwendeten auf der einen Seite neonationalistische Gruppierungen – neben Symbolen wie dem eisernen Kreuz oder dem Reichsadler, Farben wie Braun oder denen der Reichsflagge und der Nationalsozialisten (Rot, Schwarz, Weiß) – von Anfang an auch gebrochene Schriften, um ihre Ideologie graphisch sichtbar zu machen [...]. Dies übrigens nicht nur im deutschen Sprachraum; offenbar haben sich die Schriften zu einem transnationalen Erkennungszeichen der Szene entwickelt [...]. Und auch andere konservative Gruppierungen, die um die ›Bewahrung‹ einer deutschen ›nationalen Identität‹ bemüht sind, nutzen die Schriften in einem ähnlichen Sinn. (Spitzmüller a.a.O., S. 308)

 

*) Es würde mich auch nicht mal wundern, wenn die zu erwartenden Assoziationen nicht mal speziell bei Schaftstiefelgrotesken angesprochen werden, sondern bei den meisten gebrochenen Schriften, also auch der großen Zahl ebenjener Schriften, die schon historisch-chronologisch ganz weit weg von der Naziherrschaft sind.

Da stimme ich völlig zu. Wenn man allerdings in pürstis Experiment die Tannenberg mit einer klassischen Fraktur vergleichen würde, so wäre die Assoziation mit dem Nationalsozialismus bei der Tannenberg vermutlich noch stärker. Und die Assoziation der gebrochenen Schriften mit dem Nationalsozialismus wäre wohl generell stärker als die Assoziation der hier genannten Schriften mit der DDR (ausgenommen vielleicht bei Leuten, die sehr gut über die DDR bescheid wissen).

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Was sollte denn mehr dahinter stecken als eine Assoziation? Es ist der Normalfall, dass die Verbindung von Form und Inhalt nichts weiter als eine Assoziation darstellt.

Tja, das musst du Martin fragen (bzw. in seinem Beiträgen nachlesen). Wir scheinen uns da ja völlig einig zu sein.

 

Da stimme ich völlig zu. Wenn man allerdings in pürstis Experiment die Tannenberg mit einer klassischen Fraktur vergleichen würde, so wäre die Assoziation mit dem Nationalsozialismus bei der Tannenberg vermutlich noch stärker.

Schwer zu sagen. Vielleicht würden sogar Fette Fraktur und Old English entsprechend der heutigen(!) politischen Anwendungen gut im Rennen liegen. ;-)

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So wie ich Martins Beiträge verstehe, geht es ihm (wie mir) bloss darum, dass die Assoziation der gebrochenen Schriften mit dem Nationalsozialismus tatsächlich existiert und dass man sie berücksichtigen soll.

Nein, darum geht es ganz sicher nicht, und das ist auch in jüngeren Beiträgen klargeworden. Niemand hier bestreitet, dass gebrochene Schriften mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden.

Die Frage um die es hier geht ist Folgende:

Wurden die Schaftstiefelgrotesken mit nationalistischen Hintergedanken erschaffen bzw. reflektiert ihre Gestaltung nationalistische Ideologien?

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Aber nationalistische Hintergedanken oder eine Reflexion nationalistischer Ideologien sind doch auch nichts weiter als Assoziationen.

Ja, aber da es sich hier um die Erschaffung dieser Schriften handelt, müssen ganz bestimmte Personen diese Assoziationen haben, nämlich die Gestalter.

Man könnte die Frage, um die es hier geht, auch so stellen: Sind die Assoziationen der Schaftstiefelgrotesken mit Nationalismus nachträglich entstanden oder hatten sie bereits deren Erschaffer, als sie die Schrift schufen?

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Interessante Frage. Wenn die Erschaffer genau dies beabsichtigen wollten, wäre es demnach ja eine Erfolgsstory, weil man die Assoziation nicht mehr los wird.

 

Keine Ahnung, wie es damals war. Ich habe den Eindruck, dass sich "heutzutage" so eine klischeehafte Verbindung erst mit der Zeit herauskristallisiert. Irgendwer nutzt bestimmte Gestaltungselemente in einem bestimmten Zusammenhang, andere greifen diese im gleichen Zusammenhang auf und zehn Jahre später sagt man dann "das sieht aus wie eine typische 90er-Jahre-Techno-Schrift". :-)

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Soll ich zum 6. Mal oder so auf den späten Willberg verweisen, der eben diese Aussagen von Kapr und sich selbst behandelt?

Man achte doch nur mal auf die beschreibenden Vokabeln von Kapr und auch von dir. »gleichgeschaltet«? Ist das ein Begriff, den wir in sachlichen Schriftbeschreibungen verwenden oder werden hier Gefühle und Assoziationen aus der bekannten Anwendung entlehnt? Primitiv/einfallslos – siehe Willberg. Warum wurde die Reduktion der Schriftformen in den 1920ern bei der Antiqua gefeiert, aber bei der gebrochen Schrift ist sie primitiv, stumpf, gar brutal, grobschlächtig und was nicht noch alles. Das sind einfach keine sachlichen Analysen von Schriftformen. Sieh entstehen nicht aus dem, was du und Kapr da wirklich sehen, sondern was ihr wisst und aus eurem Wissen in die Schrift reininterpretiert. Aber das hatten wir ja alles schon …

Nein, nicht zum sechsten Mal Willberg, lieber eine Antwort auf die DDR-Schrift-Frage, wenn das möglich ist.

Willberg übernehme ich mal für dich, aber ohne ihn zu verkürzen und eine Eindeutigkeit herzustellen, die nicht besteht. Er hat in dem 1993 erschienen Buch von Kapr in einem Aufsatz die sehr viel stärkeren Vorbehalte gegen alle gebrochenen Schriften beschrieben, die er 1991 in Ost-Berlin vortrug und zu seinem Erstaunen auf Unverständnis bei den ostdeutschen Hörern trafen. Dann führt er aus, daß den gebrochenen Schriften Unrecht geschehen ist und stimmt Kapr in dieser Frage zu. Er stimmt ihm auch zu in Hinsicht auf die »schlichte Gotisch« und kritisiert sie scharf. »Marschtritthafte Härte«, »gewalttätiges Pathos«, »grobe Gebilde«. Im Jahr 2000 erscheint das Buch »Typolemik« (sic!) von Willberg. Er wiederholt dort die Thesen aus dem Buch von 1993. Auf zwölf Zeilen äußert er dann »Zweifel« an seiner bislang publizierten Auffassung: »Die Grotesk, speziell die Futura (1928 erschienen), feiern wir als Meisterleistung der Abstraktion, der Reduzierung der Antiqua-Formen unter Verzicht auf alles Überflüssige. Eine künstlerisch und intellektuell epochale Tat. Bei der Reduzierung auf die Grundform unter Verzicht auf alles Überflüssige sprechen wir im Fall der ungefähr gleichzeitig [sic! – MZS] entstandenen »schlichten Gotisch« von brutaler Vergröberung. Ist das redlich oder schiebt sich das Gefühl vor die Analyse?« Die Frage wird nicht beantwortet. Willberg geht auf unterschiedliche Formen der Vereinfachung nicht ein. Es besteht doch ein Unterschied beispielsweise zwischen Wallau (1925–1930) und Tannenberg (1933–1935). Eine Seite weiter wird der Leser nun mit einem ordentlichen Widerspruch sitzengelassen: »Der zweite Punkt des Zweifels ist geradezu ein Eigentor. Denn nachdem ich lauthals den Mord an der Schriftform durch die Nazis und ihre Zuarbeiter angeprangert hatte, fand ich in Fachbüchern die Abbildungen von ebensolchen Schriften, die aber aus dem frühen 15. Jahrhundert stammen. Die Nazis waren nicht kreativ, nicht einmal bei der Brutalisierung der Schrift. Sie haben nur mit feinem Sinn fürs Grobe die ihnen gemäßen Vorbilder gefunden.«

Da steht man nun. Was meint Willberg? Erst ist die Schrift »formal verunstaltet«, dann zweifelt er kurz an seinem Urteil und erwägt, sie als Modernisierung im Zuge der 20er Jahre zu betrachten, um sie im nächsten Moment, einen Absatz danach, wieder als Brutalisierung und mit nazihaftem Sinn fürs Grobe von den Nazis selbst aus dem Mittelalter abgekupfert zu sehen. Ralf, ich fürchte, mit Willberg kannst du nicht ordentlich argumentieren. Er hat seine Ansichten in Frage gestellt, aber nicht revidiert und seine offenbar tiefsitzende Abneigung eher betont.

 

Kapr hat seine Ansichten meines Wissens weder in Frage gestellt noch relativiert, auch von Tschichold ist mir solches nicht bekannt. Ich teile diese Ansichten. Mich würden aber nähere Untersuchungen interessieren, dazu zählen die Lebensläufe der Schriftentwerfer (nach Kapr »zweit- und drittrangige Graphiker«) und die genauen Umstände, unter denen ihre Werke entstanden. Ich wäre überrascht und würde meine Ansichten freilich revidieren, wenn beispielsweise ein Schriftwechsel zwischen damals beteiligten Fachleuten auftauchte, aus dem hervorgeht, daß sich kreative Geister, ideell abgewandt vom Nationalsozialismus, über die Möglichkeiten austauschten, gebrochene Schriften im Sinne der internationalen Moderne zu vereinfachen und dadurch überhaupt auf die Gotischen gekommen sind. Von Herrn Meyer (Tannenberg) weiß man aber wohl nur, daß er Koch-Schüler war und später Sänger wurde.

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